Alles halb so wild!
Über das journalistische Unvermögen, eine Krise als solche zu fassen.
Arthur Rutishauser, Chefredaktor der Schweizer “SonntagsZeitung” und einer der erfolgreichsten Journalisten der Schweiz, hat am 3. November, also zwei Tage vor der Wahl in den USA, ein bemerkenswertes Editorial geschrieben.
Rutishauser ruft zu “moralischer Abrüstung” auf. Weder sei Kamala Harris eine Kommunistin, noch sei Donald Trump ein Faschist. Und die amerikanische Demokratie mit ihren Institutionen sei sowieso “viel stärker als beide”. Die “Apokalypse” sei ja weder unter Joe Biden noch unter Donald Trump eingetreten. Auch dieses Mal, so das Argument, wird alles glimpflich verlaufen, egal wer gewinnt.
Der Text ist erstaunlich. Die falsche Ausgewogenheit ist so falsch, dass ich mich frage, ob Rutishauser die letzten acht Jahre auf einer einsamen Insel verbracht hat.
Zu argumentieren, die Kritik an Harris und Trump sei gleichermassen übertrieben und sie beide seien am Schluss gleichermassen unproblematisch, ist hanebüchen. Donald Trump ist ein verurteilter Betrüger und Vergewaltiger, der 2020 / 2021 einen Putsch durchführen wollte. Er anerkennt bis heute nicht, dass er die Wahl 2020 verloren hat. Seine Kampagne hat klar gemacht, dass er auch dieses Mal eine Niederlage unter keinen Umständen akzeptieren wird. Er schwärmt von Diktatoren, hat die reproduktiven Rechte von Frauen massiv eingeschränkt, will Medienfreiheit pulverisieren und unliebsame Berichterstattung verhindern, will das Militär gegen politische Gegner einsetzen. Und er proklamiert, Migranten würden das “Blut des Landes” vergiften. Ein Ausdruck, der aus Hitlers “Mein Kampf” stammt.
Für Rutishauser offenbar kein gar so grosses Problem und erst recht nicht faschistisch. Und überhaupt, zwischen Trump und Harris besteht für ihn bezüglich demokratischer Werte Symmetrie. Beide sind im grünen Bereich. Alles kommt gut. Regt euch nicht so auf. Bitte endlich moralisch abrüsten und nicht so tun, als ob etwas auf dem Spiel steht.
Das ist eine geradezu surreale Sicht zur Lage der Demokratie in den USA. Ich glaube aber nicht, dass Rutishauser mit böser Absicht oder bewusst verzerrend argumentiert. Er arbeitet schlicht mit dem, was ihm analytisch zur Verfügung steht: Unscharfe journalistische Heuristiken, die ein schlechter Seismograph gesellschaftlichen Wandels sind.
Gefangen im Status Quo
Zunächst: Dieser Text ist kein Journi-Bashing. Journalismus ist für Demokratie überlebenswichtig. Journalist*innen leisten unersetzbar wertvolle Arbeit.
Ein Teil des stark kommerzialisierten, nennen wir ihn “Kurzzeit-Journalismus”, zu dem ich auch Rutishausers “SonntagsZeitung” zähle, fokussiert aber primär auf Schnappschüsse. Beschreibungen der Dinge, wie sie im Moment sind. Was passiert gerade, wie, mit wem. Knackige Stories, die Klicks geben. Das ist OK. Das darf es geben.
Der analytische Horizont, also die Breite, Tiefe und Systematik der Untersuchung, ist in dieser Art von Journalismus aber eher kurz. Und zwar in zweifacher Hinsicht: Sowohl diskursiv (Meinungen) als auch materiell (politische Realitäten).
In diskursiver Hinsicht ist eine Analyse vom Schlage Rutishausers wenig mehr als ein Fischen im Overton-Fenster. Das Overton-Fenster ist ein einfaches Modell über den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Wandel und öffentlichem Diskurs. Im Diskurs, also in der breiten politischen Diskussion, gilt jeweils ein Ausschnitt aus dem Spektrum des Möglichen als akzeptabel. Das, was als akzeptabel gilt, ist das, was politisch und gesellschaftlich Mehrheiten findet und machbar ist.
Das Overton-Fenster ist nicht statisch. Moralvorstellungen, Ideologien, Einstellungen ändern sich. Das Overton-Fenster ist aber ein rein deskriptives Konzept. Eine Beschreibung, wie Diskurs funktioniert. Das, was zu einem beliebigen Zeitpunkt T im Ausschnitt des Akzeptablen liegt ist allein dadurch nicht moralisch richtig. Viele Journalist*innen machen in ihrer meta-diskursiven Arbeit hier nun intuitiv den Fehlschluss, das Overton-Fenster latent als präskriptiv zu verstehen. Bei ihrer Bewertung politischer Ansichten orientieren sie sich selber am Overton-Fenster der akzeptierten Meinungen. Das führt zu absurden Schlussfolgerungen. Etwa bezüglich Trump.
Trump und seine Gefolgschaft haben das Overton-Fenster in den vergangenen Jahren erfolgreich in Richtung Demagogie, Hass, Faschismus verschoben. Nie endende antidemokratische Tabubrüche und Eskapaden haben antidemokratische Tabubrüche und Eskapaden normalisiert. Darum aber zu schlussfolgern, Trump sei gar nicht so schlimm, ist analytisch natürlich unsinnig und reproduziert lediglich das Overton-Fenster. Es ist aber eine bequeme, schnell verinnerlichte Daumenregel.
Der zweite Grund, warum Journalismus wie bei Arthur Rutishausers Editorial analytisch kurzsichtig ist: Der gesellschaftliche Status Quo — die Dinge, wie sie gegenwärtig sind — ist gleichzeitig sowohl der Gegenstand der Analyse als auch der Bezugsrahmen für die Werkzeuge der Analyse. Wenn die Analyse, die man durchführt, darin besteht, Schnappschuss-artige Beschreibungen vom Ist-Zustand zu machen und sie anhand der Eigenschaften des Ist-Zustandes zu bewerten, kann eine grundlegende Veränderung oder das Ende des Ist-Zustandes gar nicht gedacht werden. Denn das sind in einer solchen analytischen Konstellation Unknown Unknowns: Dinge, die man nicht auf dem Radar hat und zu denen man sich gar nicht vorstellen kann, dass so etwas auf dem Radar sein könnte.
Das ist keine aktive, bewusste Fehlinterpretation, sondern eher so etwas wie “Déformation professionnelle”. Die Arbeit von Journalist*innen im “Kurzzeit-Journalismus” besteht darin, sehr oft über sehr kleine Veränderungen zu berichten. Es passieren ständig Dinge, aber nie wirklich weltverändernd grosse. Das Pendel schwingt in die eine, dann wieder in die andere Richtung. Es gibt Schlagzeilen, dann wird es wieder ruhig. Insgesamt ist diese Form des journalistischen Business Business as Usual. Sehr viel Rauschen mit einer gewissen Bandbreite an Streuung. Aber im Durchschnitt nimmt man das Gesamtsystem als stabil wahr. Oder, wie Rutishauser es formuliert:
Und die amerikanische Demokratie mit ihren Institutionen ist sowieso viel stärker als beide. Wenn eine Wette zu gewinnen ist, dann diese, nämlich, dass sich die Welt auch nach dem 5. November weiterdreht.
Wenn man wettet, dann darauf, dass sich nichts verändert.
Eine bequeme Heuristik. Wenn man aber auch nur im Ansatz etwas von Risiko versteht, ist das die verheerendste Wettstrategie überhaupt.
Ewig grüsst das Ende der Geschichte
Das Denken von Journalist*innen wie Rutishauser ist, bildlich gesprochen, von einem kleinen Francis-Fukuyama-Homunculus verzerrt. Der Homunculus flüstert ihnen leise zu: Wir haben das Ende der Geschichte erreicht! Es passiert nichts mehr! Nun ist moralische Abrüstung gefragt!
Doch, Dinge passieren. Auch schlechte. Auch dann, wenn sie in der letzten Zeit nicht passiert sind. Der Kern des Problems ist hier natürlich, wie so oft, wenn es um gesellschaftlichen Wandel geht, das Induktionsproblem. Und der naive Empirismus, der sich daraus speist.
Rutishauser sagt paraphrasiert, Trump sei schon nicht so schlimm, weil seine letzte Amtszeit ja auch nicht so schlimm war. Abgesehen davon, dass sie sehr schlimm war: Der blosse Umstand, dass etwas in den vergangenen Jahren nicht eingetreten ist, ist in der sozialen Realität kein Indikator oder gar Garant, dass es auch in Zukunft nicht eintreten wird. Ein Beispiel: Das Leben von Frauen in Afghanistan wurde zwischen 2001 und 2020 kontinuierlich besser. In der Ruthishauser’schen Logik des naiven Empirismus wäre um 2019 herum die Schlussfolgerung gewesen, dass das Leben von Frauen in Afghanistan darum auch in Zukunft so bleibt und noch besser wird. Das ist natürlich Quatsch. Es gibt leider so etwas wie Risiko.
Bei Trump kennen wir die Risiken — sie haben bereits zu immensem Schaden geführt. Zu sagen, dass es schon gut kommt, wenn die Person, um die es geht, seit Jahren alles daran setzt, dass es maximal schlecht kommt, ist eine besondere Form der Irrationalität. So selten, dass sie vielleicht den Chefredaktoren grosser Zeitungen vorbehalten ist.