Ein so grosses Echo wie in Paris hatten die Olympischen Spiele vielleicht noch nie. Aber nicht unbedingt wegen der sportlichen Leistungen.
Rechtskonservative empörten sich lautstark wegen der Eröffnungs- und Abschlusszeremonien. Der Auftritt der Metal-Band Gojira mit dem Kostüm einer enthaupteten Marie-Antoinette sei Satanismus, eine Szene mit Dionysos erinnere an das Letzte Abendmahl und sei darum eine Verhöhnung des Christentums, eine Darstellung der griechischen Skulptur Nike von Samothrake sei anti-christlich und dämonisch.
Diese theatralisch zur Schau gestellte Empörung war grundsätzlich einfach eine weitere Front des hysterischen oder besser gesagt hysterisch inszenierten rechten Kulturkampfes. Dass es in diesem Fall ausgerechnet die künstlerischen Darstellungen an den Olympischen Spielen traf, ist aber kein Zufall. Kunst, Expressivität und kreativer Umgang mit der Frage, wer wir sind und wie wir sein wollen, ist auch jenseits der aktuellen Anti-Wokeness-Moralpanik etwas, womit Menschen mit konservativer Weltanschauung Mühe haben.
Der Kern von Konservatismus
Zunächst eine Vorbemerkung. Ich will mit diesem Text nicht sagen, dass konservative Menschen Kunst und Kreativität überhaupt nicht gut finden. Natürlich tun sie das. Alle Menschen haben im weitesten Sinn so etwas wie ein subjektives Empfinden für ästhetische Anstrengungen. Geschmäcker sind bekanntlich verschieden, aber wir alle haben einen. In der Regel zählt für uns alle nicht nur, ob etwas funktional nützlich ist, sondern auch (und vielleicht vor allem), ob es uns auf einer hedonischen, auf einer emotionalen Ebene berührt.
Die ideologische Prägung, die wir haben, beeinflusst dabei, was uns positiv oder negativ berührt. Wie?
Ein zentraler Aspekt von Ideologie — Ideologie verstanden als neutraler Begriff für die Summe aller nicht-epistemischen, moralischen Überzeugungen — ist die Dimension Konservatismus vs. Progressivismus. Wenn eine Person stärker konservativ ist, ist sie für die Beibehaltung bestehender Strukturen und Normen (bzw. für die Rückkehr zu vergangenen Strukturen und Normen) und hat eine Präferenz für Klarheit und Gewissheit. Wenn eine Person stärker progressiv ist, ist sie im Glauben an positive Veränderung eher bereit, bestehende Strukturen und Normen zu hinterfragen und aufzugeben, auch wenn das Unklarheit und Ungewissheit bedeutet.
Und hier liegt der Hund begraben. Wenn eine stark konservative Person Formen von Kunst sieht, die den Status Quo kritisch hinterfragen oder zumindest zur Disposition stellen, ist sie dieser Kunst tendenziell abgeneigt, da sie etwas darstellt, was ihre Weltanschauung irritiert. Der konservative Mindset zeichnet sich eben durch die Ablehnung von Stimuli aus, die die Gewissheit des Status Quo bzw. des Status Quo Ante, der idealisierten Vergangenheit, gefährden.
Auf die Zeremonien der Olympischen Spiele übertragen: Viele Menschen empfanden die kreativen Ausdrucksformen bei der Eröffnung und dem Abschluss auch jenseits der künstlich inszenierten Anti-Wokeness-Moralpanik als unangenehm, weil sie ihr gefestigtes, traditionalistisches Weltbild irritieren. Diese Menschen sind nicht gegen Kunst. Sie sind lediglich gegen Kunst, die (vermeintlich) tradierte kulturelle und gesellschaftliche Motive gestalterisch umdeutet und dazu anregt, über die Motive und unseren Umgang mit ihnen nachzudenken. Der konservative Mindset will das, will diese Unsicherheit, diese Mehrdeutigkeit, per definitionem nicht.
Die sozialpsychologische Perspektive
Das mag nach einer halbwegs plausiblen Hypothese klingen. Gibt es dafür Evidenz? Ja.
Der Befund, dass stärker konservativ eingestellte Menschen komplexere und abstraktere Kunst weniger gut finden, ist schon Jahrzehnte alt1. Dieser generelle Zusammenhang wird von verschiedenen psychologischen Dynamiken begleitet.
Zum Beispiel im Bereich der Persönlichkeit. In zahlreichen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass Konservatismus negativ mit dem Persönlichkeitsmerkmal der Offenheit korreliert. Je konservativer eine Person ist, desto weniger offen ist sie für neue Erfahrungen2. Die kausale Richtung dieser Beziehung ist aber nicht ganz klar. Möglicherweise führt weniger Offenheit zu Konservatismus, möglicherweise aber auch umgekehrt mehr Konservatismus zu einer von weniger Offenheit geprägten Persönlichkeit.
In diversen Studien zeigten sich zudem weitere Zusammenhänge in Kombination mit dem Effekt von Offenheit. Menschen, die stärker Struktur und Gewissheit wollen und stärker dogmatisch an klaren Glaubenssätzen orientiert sind, neigen auch eher zu Konservatismus3. In weiteren Untersuchungen zeigte sich, dass stärker konservative Menschen weniger kreativ4 5 und weniger offen sind, neue Stimuli zu verarbeiten6. In einigen Untersuchungen wird sogar argumentiert, dass sich der Einfluss von Ideologie auf Kreativität in der Anzahl von Patenten zeige, nach dem Schema: Mehr Konservatismus resultiert in weniger Patenten7 8.
Diese Befunde werden in einer weiteren Studie wie folgt zusammengefasst9:
[E]xisting work suggests that political conservatism reflects a greater tendency to seek structure, to avoid ambiguity, changes to the status quo, and novelty. By this account, political liberalism represents greater comfort with lack of structure, new experiences, and novel information.
Konservatismus, so die sozialpsychologischen Befunde, bedeutet weniger Offenheit für neue Informationen und Veränderungen. Zum Beispiel in Form von Kunst und Kreativität.
Diese Zusammenhänge sind natürlich nicht Schwarz-Weiss. Es sind Grautöne und Tendenzen. Die in der Summe aber erheblich beeinflussen, wie man die Welt sieht.
Die Ära der endlosen Moralpanik
Es ist im Grunde nichts Neues. Konservatismus bedeutet eine Abneigung gegenüber Veränderung und dem Denken über Veränderung. Damit verbunden sind immer auch Gefühle der Kränkung und des Verlustes.
Die Ausgangslage ist heute aber eine andere. Der gesellschaftliche Diskurs ist in Zeiten von Social Media so breit und vielfältig wie noch nie — und handkehrum sind die Sorgen ob des wahrgenommenen Zerfalls tradierter Gewissheiten es auch. Darüber nachzudenken, wer wir als Gesellschaft sein wollen und wohin unsere kollektive Reise gehen soll, war für Konservative immer schon eine unangenehme Verlusterfahrung. Heute sind diese diskursiven Irritationen aber allgegenwärtig. Irritationen, die subtil, aber beständig am konservativen Glauben an einen bereits erreichten finalen, klaren, richtigen Zustand der Gesellschaft sägen.
Das ist ein ergiebiger Nährboden für findige publizistische Entrepreneure, die konservatives Unbehagen in ungewissen Zeiten zu einer Moralpanik aufblasen. Sie säen auf das konservative Weltbild zugeschnittene Angst, um Aufmerksamkeit, an der sie sich so köstlich laben, zu ernten. Die rhetorische Formel dafür ist ausgesprochen einfach, aber wirksam. Sie wollen euch alles nehmen. Familie, Geschichte, Herkunft. Alles wird woke gemacht. Dekadenz zerstört unsere Kultur. Der Untergang steht bevor. Denkt nicht nach — empört euch. Habt Panik. Seid wütend.
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