Sanija Ameti und die Anatomie einer publizistischen Vernichtung
Über ungleiche Massstäbe in der Empörungsbewirtschaftung.
Der Anfang
Sanija Ameti hat Scheisse gebaut.
Ameti, GLP-Politikerin und Co-Präsidentin des linksliberalen Thinktanks “Operation Libero”, hat am Wochenende zwei skurrile Fotos auf Instagram veröffentlicht. Das eine zeigt sie mit ihrer Luftpistole beim Schiessen, das andere ihre Zielscheibe mit Einschusslöchern: Ein Bild eines Gemäldes mit Maria und Jesus als Baby.
Ameti sagt, das sei unüberlegt passiert und sie sei sich der Symbolik nicht bewusst gewesen. Ehrlich gesagt überzeugt mich das irgendwie nicht ganz. Klar, Hanlon’s Razor1 und alles, aber: Ameti ist Politik-Profi, die darüber hinaus auch in einer PR-Agentur arbeitete. Wenn sich jemand der explosiven Symbolik eines solchen Posts bewusst sein müsste, dann sie. Handkehrum geht diese Deutung aber auch nicht ganz auf, denn Ameti hätte, wäre es eine bewusst geplante Provokation, ja auch antizipieren müssen, dass eine Provokation ihr einen grossen Shitstorm einbringen wird. Also vielleicht doch Hanlon’s Razor. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand dummes Zeug postet, ohne das Gehirn einzuschalten.
Wie dem auch sei: Hätte eine Person von Rechts eine solche Aktion mit z.B. einem islamischen Symbol durchgeführt, hätte ich das wahrscheinlich auch dann kritisiert, wenn die Person erklären würde, es sei keine Absicht gewesen. Darum konsequenterweise auch hier: Diese Aktion war sicher dumm und, falls als Provokation gedacht, moralisch falsch2.
Das Ende? Nein, es geht erst richtig los
Sanija Ameti hat Scheisse gebaut. Und sie hat sich dafür entschuldigt.
Nachdem ihr Instagram-Post kritisiert wurde, hat sie ihn umgehend gelöscht und in Worten, wie sie klarer nicht sein könnten, um Vergebung gebeten. Sie hat sich zudem in einem Schreiben an den katholischen Bishoff in Chur bei der katholischen Gemeinschaft entschuldigt.
Das hätte eigentlich das Ende der Geschichte sein können. Eine sehr dumme Aktion, die Ameti ausdrücklich bereut und für die sie sich öffentlich entschuldigt. Das ist eigentlich das, was wir uns wünschen: Eine Person macht einen Fehler, anerkennt den Fehler und akzeptiert, dass und warum das falsch war.
Weit gefehlt. Die Welle der entrüsteten Empörung ging damit erst so richtig los. Zum einen eine in ihrer Tonalität fast hysterische Skandalisierung in journalistischen Medien. Zum anderen eine internationale Hetzkampagne auf Social Media.
Der Medienhype
Medien lieben Skandale. Moralische Transgressionen sind emotional bewegend. Früher gab das Einschaltquoten und verkaufte Zeitungen. Heute gibt es Klicks.
Ametis Instagram-Post wurde publizistisch mit Kusshand aufgegriffen und in Rekordzeit zu einem Hype verwertet: Ein Trigger-Event lässt die Berichterstattung explodieren, die Berichterstattung ihrerseits hat Konsequenzen in der realen Welt, was wiederum mehr Berichterstattung befeuert.
Die Skandalisierung von Ameti hatte rund vier Phasen innerhalb weniger Tage. Zunächst kamen die Berichte über den Vorfall an und für sich.
Danach folgten Berichte über die Konsequenzen der Berichte: Ameti verlor ihren Job bei der PR-Agentur Farner, trat aus der Parteileitung der GLP des Kantons Zürich zurück und wird womöglich ganz aus der GLP ausgeschlossen. Zudem hat u.a. die rechtsradikale Junge SVP Strafanzeige gegen Ameti eingereicht.
Im Zuge dieses “Fallout” des Skandals gab es auch diverse Meinungsbeiträge und Kommentare, die Ameti als persona non grata kritisierten und harte Sanktionen als moralisch angemessen erklärten.
In der vierten Phase gibt es nun einige Analysen, die versuchen, eine Meta-Perspektive einzunehmen und zu fragen, ob der Shitstorm nicht doch zu weit geht.
Die Hasswelle
Der Refrain der empörten Kritik über Ameti in der Schweizer Medienlandschaft war auch auf Social Media zu hören — bloss um einige Grössenordnungen lauter und entgleister. Sprich hasserfüllt und offen rassistisch.
Zum Beispiel in den User-Kommentaren der Weltwoche. Die Leserschaft der Weltwoche hat ganz offensichtlich weder Hemmungen noch moralische rote Linien und begrüsst u.a. Genozid an der bosniakischen Bevölkerung. Ganz normale Kommentare in einer ganz normalen Publikation.
Auf anderen Plattformen sieht es nicht besser aus. Auf Twitter / X beispielsweise haben diverse Accounts, auch englischsprachige, deren Profile von reaktionärem Konservatismus bis hin zu offenem Rechtsextremismus reichen, die Geschichte aufgegriffen. Sie fantasieren über Deportation und stellen Ameti in die Nähe von Terroristen.
Auch der österreichische Rechtsextremist Martin Sellner meldete sich zu Wort. Ametis Rücktritt reiche ihm nicht. Diese “undankbare Person” sei uns lange genug auf der Nase herumgetrampelt.
Sellners Hassbotschaft ist doppelt interessant. Einerseits erhebt er hier den Anspruch, etwas zu Ameti, die in der Schweiz lebt und Schweizerin ist, zu sagen zu haben — ihr Rücktritt reicht ihm nicht, Ameti sei uns auf der Nase herumgetrampelt. Das ist kein Zufall. Rechtsextremismus ist internationalistisch: Das ideologische Ziel ist, ein reines Volk länderübergreifend über ethnische Säuberung (in der rechtsextremen Szene heute als “Remigration” euphemisiert) wiederherzustellen.
Andererseits ist auch Sellners bewusst vage Formulierung “Sie soll verschwinden” typisch für die Neue Rechte. Man spricht eine Gewaltfantasie so aus, dass sie genug vage bleibt, um nicht justiziabel zu sein.
Die internationale Hasswelle gegen Ameti ist in ihrer Dimension etwas, was ich bisher nicht erlebt habe. Über Nacht wird eine Schweizer Politikerin zu einem globalen Hassobjekt und damit zur Projektionsfläche für schlimmstmögliche rassistische Hetze. Ich kann nicht mal beginnen, mir vorzustellen, wie es ist, Opfer von Mobbing dieser Grössenordnung zu sein. Es übersteigt meine Vorstellungskraft.
Die ungleichen Massstäbe
Soll Ameti für ihre Aktion kritisiert werden? Natürlich — ich tue es ja auch. Aber jeder auch nur halbwegs rational denkenden Person muss klar sein: Über Ameti ergiesst sich eine Welle der Empörung und des Hasses, die in keinem Verhältnis zu ihrem Versäumnis stehen. Das lässt sich veranschaulichen, wenn wir den Umgang mit anderen Transgressionen betrachten. Zum Beispiel einen Fall des SVP-Nationalrates Andreas Glarner.
Glarner veröffentliche im Mai 2023 einen Einladungsbrief einer Schule zu einem im Lehrplan vorgesehenen Gendertag. Dabei doxxte er u.a. eine Schulsozialarbeiterin und veröffentlichte ihre Handy-Telefonnummer. Der Gendertag wurde in der Schule seit Jahren ohne irgendwelche Probleme durchgeführt. Nun aber, da Glarner auf Social Media hetzerisch fragte, wer endlich “durchgreife”, änderte sich das. Glarners Hassmob empörte sich nicht nur online, sondern griff denn auch offline durch: Die Schule erhielt Drohungen und musste den Gendertag sicherheitshalber absagen.
Glarner hat sich für seine Hetze nie entschuldigt. Sein Post auf Twitter mit dem Brief ist immer noch online. Es gab keine ernsthaften Forderungen, geschweige denn parteiinterne Überlegungen, ihn aus der SVP auszuschliessen. Er musste nirgendwo zurücktreten. Er wurde in keiner Weise sanktioniert.
Wir halten fest: Glarners Hetze, die realen Schaden anrichtetete — Drohungen gegen Schulangehörige und damit verbunden psychische Belastung — blieb ohne jede Konsequenz. Es gab keine journalistischen Aufforderungen, dass damit seine politische Karriere enden müsse.
Ameti hingegen, die auf ein Bild schoss, sich dafür sofort umfassend entschuldigte und bei niemandem Schaden anrichtete, wurde medial zur persona non grata erklärt. Sie habe zurecht ihren Job und ein politisches Amt verloren und müsse ganz aus der Partei ausgeschlossen werden. Die SVP — ausgerechnet die SVP — fordert zudem, dass sie von der Universität Bern, wo Ameti an ihrem Doktorat arbeitet, herausgeschmissen werden soll und nicht promovieren darf.
Diese Ungleichbehandlung moralischer Verfehlungen erreicht in einem Kommentar in der Neuen Zürcher Zeitung NZZ einen irrwitzigen Höhepunkt.
Zeno Geisseler erfindet in seinem Artikel ein Szenario, das es nur in seinem Kopf gibt: Man stelle sich vor, wie Ameti reagiert hätte, wenn Glarner etwas Ähnliches wie sie gemacht hätte. Ähm, was? Aber damit nicht genug: Er beklagt, dass Glarner in einem solchen fiktiven Szenario Polizeischutz benötigt hätte.
Diese Gehirnakrobatik hat mir die Sprache verschlagen. Geisseler schreibt hier nicht nur irgendeine bizarre “Was wäre wenn?”-Fanfiction, in der Glarner Polizeischutz benötigt — in seinem ganzen Artikel erwähnt er zudem mit keinem Wort, dass Ameti tatsächlich unter Polizeischutz steht, weil sie Morddrohungen erhalten hat. Glarner als Opfer von Drohungen imaginieren und verschweigen, dass aktuell jemand tatsächlich glaubwürdige Morddrohungen erhält, nämlich Ameti. Das ist eine der verrücktesten und perfidesten publizistischen Verdrehungen, die ich jemals erlebt habe.
Diese absurde publizistische Skandalisierung von Ameti im Vergleich zu anderen und massiv problematischeren Transgressionen könnte an vielen weiteren Beispielen aufgezeigt werden. Um nur eines zu nennen: Nils Fiechter, Präsident der Jungen SVP, die Strafanzeige gegen Ameti eingereicht hat, ist wegen Verstosses gegen die Antirassismus-Strafnorm verurteilt worden. Es gab nie eine Empörungswelle, dass ein verurteilter Rassist, der sich nie für seinen Rassismus entschuldigt hat, alle politischen Ämter niederlegen soll. Es gab nie eine Empörungswelle, dass er seinen Job bei einer öffentlichen Verwaltung verlieren soll.
Die Strategie
Es ist kein Zufall, dass die Mechanismen der Skandalisierung ungleich sind. Rechtspopulistische Parteien und Akteure operieren mit einer Strategie, die Roger Stone, politischer Berater u.a. von Richard Nixon und Donald Trump, folgendermassen zusammengefasst hat:
Admit nothing, deny everything, and launch a counterattack.
Nie zugeben, dass man etwas falsch gemacht hat; alles abstreiten; zum Gegenschlag ausholen.
Das ist quasi das Lebensmotto weit rechter Akteure. Man übt sich in nie endenden Tabubrüchen und bleibt immer im Angriffsmodus. Nie Schwäche zeigen, nie Fehler eingestehen, immer Angriff, Angriff, Angriff. Diese Strategie, so banal sie klingen mag, ist hochwirksam. Der Effekt: Wir stumpfen ab, auch Journalist:innen. Das Gefühl dafür, was normal ist, verändert sich.
Wenn ein Glarner gegen eine Schule hetzt und dadurch das Schulpersonal bedroht wird, ist das einfach nicht besonders aufregend. Man nimmt es mehr oder weniger hin. Denn er und seine Partei machen solche Sachen ständig und beharren darauf, dass sie alles richtig machen. Es gibt nie Konsequenzen, nie Sanktionen. Das Einzige, was passiert: Der Diskurs verschiebt sich in die ihnen genehme Richtung. Wenn hingegen eine Sanija Ameti eine Dummheit begeht, mag diese zwar in Tat und Wahrheit ziemlich banal sein — aber sie hat grossen Neuigkeitswert, weil die Aktion als krasse Transgression empfunden wird.
Und weil Ametis Reaktion auf die Skandalisierung nicht ein Glarner’sches “Fuck You, ich lass mir nichts vorschreiben” ist, sondern das sofortige Eingestehen des Fehlers und eine Entschuldigung, wird der publizistische Shitstorm umso grösser. Reflektieren und Fehler eingestehen ist im journalistischen Kampf um Klicks nämlich Schwäche, die gnadenlos ausgenutzt wird. Wer das Richtige tut und Fehler eingesteht, begünstigt damit enthemmte publizistischen Skandalisierung. Nach dem Prinzip: Wer es mit sich machen lässt, hat es verdient, fertiggemacht zu werden.
Wie war das mit der “Cancel Culture”?
Die absurde Krönung dieser Geschichte ist, dass viele Stimmen, die jetzt kategorisch und irreversibel Sanija Ametis politisches und berufliches und akademisches Ende fordern, seit Jahren lauthals über eine “Cancel Culture” klagen. Verhalten soll keine Konsequenzen haben, wenn ich das Verhalten gut finde — aber Verhalten soll maximal harte Konsequenzen haben, wenn ich das Verhalten schlecht finde. Egal, wie gross der Schaden tatsächlich war. Egal, ob man Fehler eingesteht und Einsicht zeigt. Egal.
Diese unendliche Heuchelei, diese Unehrlichkeit, diese anti-intellektuelle Bauchgefühl-Welt, dieser ganze prinzipienlose Bullshit. Es ist ermüdend.
Es ist alles einfach nur noch ermüdend.
Hanlon’s Razor besagt: “Never attribute to malice that which is adequately explained by stupidity.” Schreibe nicht der Böswilligkeit zu, was durch Dummheit hinreichend zu erklären ist.
Als Atheist und Laizist alter Schule bin ich zwar der Meinung, dass wir in einer Demokratie alle Religionen und religiöse Symbole noch und nöcher verspotten dürfen sollen. Bibeln, Korane, Dianetics, verbrennt sie von mir aus alle. Das sollte erlaubt sein. Ich finde es aber trotzdem moralisch richtig, davon abzusehen, weil “harte” Verhöhnung religiöser Symbole — egal, wie die Aktionen gemeint sein mögen — in der Konsequenz oft nur Provokationen sind, die nichts Positives beitragen.
Man stelle sich vor, was hier los wäre, wenn ein SVPler oder gar ein AfDler auf ein Mohammed geschossen hätte...
Wer im Glaushaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen...