Europa hat gewählt. Das klare Ergebnis: Rechtsaussen räumt ab.
In Deutschland gewann die AfD 6 Sitze hinzu und wurde zur zweitstärksten Partei nach der CDU/CSU. In Österreich wurde die FPÖ stärkste Kraft und gewann 3 Sitze hinzu. In Frankreich deklassierte der Rassemblement National alle anderen Parteien und legte um ganze 12 Sitze zu. Die Fraktion Identität und Demokratie im Europäischen Parlamen hat 9 Sitze dazugewonnen. Weitere 14 stehen in Aussicht, sollte die ID-Fraktion die AfD-Delegation nach dem Ausschluss Maximilian Krahs wieder aufnehmen1.
Nach den sehr deutlichen Wahlergebnissen wird (wieder Mal) in empörter Schockstarre und mit Unverständnis gefragt: Warum nur wählen Menschen Parteien wie die AfD?
Lasst uns versuchen, eine Antwort zu finden.
Migration und kulturelle Demarkation
Migration ist ein globaler Megatrend und ein gesellschaftliches Megathema. Migrationsbewegungen aus dem globalen Süden in den globalen Norden nehmen zu2, und die sogenannte irreguläre Migration3 — Menschen, die kein Bleiberecht erhalten und gleichzeitig nicht (schnell genug) ausgeschafft werden — ist mindestens seit der Flüchtlingskrise 2015 ein politischer Dauerbrenner.
Rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien wie die AfD, der Rassemblement National, die FPÖ oder die schweizerische SVP positionieren sich in Abgrenzung zu anderen Parteien dezidiert migrationskritisch. Sie fordern maximal restriktive Migrationspolitik und thematisieren Migration ihre wichtigste Priorität. Und treffen damit bei einem grossen Teil der Bevölkerung ins Schwarze: Migrationsskepsis ist das zentrale Anliegen der Wählerschaft rechtspopulistischer und -radikaler Parteien45.
Migrationsskepsis hat mindestens zwei mögliche Facetten. Zum einen kann die kritische Haltung aus tatsächlichen Problemen entspringen. Die Asylwesen vieler europäischer Staaten sind de facto überlastet. Im Rahmen der irregulären Migration beantragen viele Menschen Asyl, obwohl sie nicht auf der Flucht sind, sondern auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben. Diese Menschen werden nicht als Geflüchtete aufgenommen, aber wegen bürokratischer Überlastung und diplomatischer Hürden auch nicht schnell ausgeschafft. Dass Integration in einer solchen Konstellation nicht funktioniert, ist offensichtlich.
Der Wählerschaft von AfD und Co. geht es aber nicht nur um konkrete und im Rahmen von Routinepolitik lösbare Herausforderungen rund um Migration. Es geht auch darum, dass durch Migration etwas Wesentliches und Unersetzbares grundsätzlich verloren geht: Die Identität eines ethno-kulturell verstandenen Volkes6. In dieser Logik der ethno-kulturellen Abgrenzung, des Exklusivismus, ist “kulturfremde” Migration eine existenzielle Bedrohung für die eigene Identität7. Egal, wie gut integriert sie sein mögen: Die anderen sind dadurch, dass sie essenziell und damit unveränderbar anders sind, eine Bedrohung für uns. Das ist nicht biologistischer Rassismus der alten Schule. Es ist mainstream-tauglicher, harmlos klingender “Ethno-Pluralismus”. Wenn einige wenige der Anderen da sind, mag das noch OK sein — solange sie nicht zu viele werden und sie damit durch ihre blosse Anwesenheit die sakrosankte, aber nie präzise definierbare ethno-nationale Identität und Integrität des autochthonen Volkes gefährden8.
Diese Ebene des ethno-nationalistischen Exklusivismus zeigt sich etwa, wenn Parteien wie AfD und FPÖ lautstark Kampfbegriffe wie “Bevölkerungsaustausch” und “Remigration” einsetzen. Das ist keine sachliche Kritik an konkreten migrationspolitischen Problemen. Das sind Wehklagen über die vermeintlich durch Migration kategorisch gefährdete ethno-nationale Einheit des Volkes. Diese Gefahr besteht ganz explizit auch dann, wenn die Anderen, von denen die Gefahr ausgehen soll, demokratisch perfekt integriert sind.
Oder, wie mir als in der Schweiz eingebürgertem Kroaten über die Jahre immer wieder in Gesprächen erklärt wurde: Ich mag auf dem Papier Schweizer Staatsbürger sein und mich lückenlos an alle Gesetze und demokratischen Normen halten — aber Eidgenosse, nein, das werde ich nie sein.
Ökonomische Unsicherheit und Abstiegsängste
Bei Menschen, die AfD und Co. wählen, spielt auch die wirtschaftliche Dimension eine Rolle. Untersuchungen aus unterschiedlichen Ländern zeigen, dass Menschen dann eher rechtspopulistische und -radikale Parteien wählen, wenn sie die von strukturellen ökonomischen Veränderungen, namentlich Liberalisierung, Globalisierung und Automatisierung, stärker betroffen sind9.
Aber der Effekt ist etwas indirekter als man im ersten Moment meinen könnte. Die Unterstützung für Rechtsaussen-Parteien steigt nicht in erster Linie, wenn Menschen selber bereits konkrete Konsequenzen dieser strukturellen Verschiebungen erfahren haben (z.B. Jobverlust wegen der Schliessung von Produktionsstandorten). Wichtiger ist stattdessen die Wahrnehmung des Strukturwandels, der in Sorgen über den eigenen Status mündet. Der springende Punkt ist also nicht zwingend unmittelbare persönliche Erfahrung der ökonomischen Prekarisierung, sondern die Wahrnehmung, dass in der Region, in der man lebt, wirtschaftliche Verwerfungen und wirtschaftliche Unsicherheit zunehmen10. Auch, wenn es mir selber vielleicht noch gut geht, bin ich über Veränderungen besorgt, die dazu führen könnten, dass es mir in Zukunft nicht mehr gut geht. Es sind also Sorgen über wirtschaftliche Verschlechterung, über den Verlust von Status11.
Warum aber suchen Menschen, die ökonomische Unsicherheit erleben, die Antwort ausgerechnet bei AfD und Co.? Zum einen auch wieder wegen der Migrationsfrage: Migration wird auch als ökonomische Bedrohung wahrgenommen; Einschränkung von Migration als Teil der Lösung. Andererseits haben rechtspopulistische und -radikale Parteien ökonomisch durchaus Positionen, die den Sorgen ihrer Wählerschaft zumindest ein kleines Stück weit entgegen kommen. Die AfD, der RN und die FPÖ sind ökonomisch nicht klassisch rechts positioniert. Sie lehnen beispielsweise Umverteilung nicht vollumfänglich ab und sind nicht sehr stark für mehr Deregulierung von Märkten.
Das macht sie natürlich nicht zu ökonomisch linken Parteien. Sie können sich mit ihren Positionen aber einigermassen glaubwürdig von ökonomisch rechten Parteien abgrenzen. Mit Ausnahme der Schweizer SVP, die in ökonomischer Hinsicht weitgehend klassische neoliberale Politik verfolgt.
Mythos Protestwahl
Wenn in der Debatte nach Erklärungen für die Wahlerfolge rechtspopulistischer und -radikaler Parteien gesucht wird, ist ein Argument so sicher wie das Amen in der Kirche: Das ist eine Protestwahl. Ein Denkzettel für andere Parteien. Man wählt nicht wirklich aktiv AfD und Co. wegen ihrer Inhalte, sondern ist einfach gegen die anderen.
Eine schön einfache Erklärung. Doch leider stimmt sie, recht offensichtlich, nicht.
Menschen wählen mehrheitlich AfD und Co., weil sie in ideologischer Hinsicht mit den Inhalten dieser Parteien einverstanden sind und ihre politischen Forderungen teilen12. Natürlich schwingt dabei Abneigung gegen das politische Establishment, gegen “die da oben” mit; das ist schliesslich eine wichtige rhetorische Komponente des Rechtspopulismus. Wäre aber alles wirklich nur Protest, würden auch andere kleine Parteien mit unterschiedlichen ideologischen Profilen gleichermassen davon profitieren. Das tun sie nicht, weil die AfD-Wählerschaft eben aufrichtige ideologische Überzeugungen hat und diesen in ihrem Wahlverhalten zum Ausdruck bringt.
Mythos Kontakthypothese
Ein weiteres Deutungsmuster, das manchmal angestrengt wird, um die Erfolge von AfD und Co. zu erklären: Das sind doch einfach Leute, die Vorurteile gegenüber Migrant*innen haben weil sie keine kennen. Würden etwa die Menschen in Ostdeutschland mehr Kontakt mit Menschen mit Migrationshintergrund haben, würden sie ihre Vorurteile abbauen und nicht mehr für die AfD stimmen. Ende gut, alles gut.
Leider nein. Diese als Kontakthypothese bekannte Erklärung ist auch ein Mythos.
Es stimmt, dass in urbanen Gebieten mehr Menschen mit Migrationsgeschichte leben, der Kontakt mit ihnen häufiger ist und die Einstellungen insgesamt migrationsfreundlicher sind. Aber der Effekt ist hier nicht Geografie, sondern Demografie und Einstellungen13. Städte machen Menschen nicht wegen Kontakt mit Migration migrationsfreundlicher. In Städte kommen eher Menschen, die migrationsfreundlicher sind: Menschen mit höherem sozio-ökonomischem Status (keine Statusverlust-Sorgen) und Menschen, die im weitesten Sinn aktiv kulturelle Vielfalt suchen. Der Kontakt mit Menschen mit Migrationshintergrund ist weder in die eine noch in die andere Richtung ein entscheidender Faktor.
Sollen andere Parteien den AfD-Duktus übernehmen?
Wenn AfD und Co. immer stärker werden, drängt sich die Frage auf: Machen andere Parteien in puncto Migration zu wenig? Sollen andere Parteien migrationskritischer werden, um der AfD den Wind aus den Segeln zu nehmen?
Das mag auf den ersten Blick vielversprechend klingen. Das Problem: Es funktioniert nicht. In einer grösseren Studie14, in der zwölf Länder untersucht wurden, zeigte sich, dass die Strategie nicht zielführend ist. Wenn überhaupt, ist der Effekt umgekehrt: Wenn andere Parteien migrationskritische Positionen von Rechtsaussen übernehmen, stärkt das letztlich Rechtsaussen.
Das bedeutet natürlich nicht, dass andere Parteien Migrationspolitik ignorieren sollen. Das ist ein wichtiger Politikbereich mit realen Problemen. AfD und Co. werden aber nicht ausgebremst, indem man ihre Politik und Rhetorik übernimmt. Im Zweifelsfall ist das Original nämlich immer attraktiver als die Kopie.
Die beste Geschichte gewinnt
Wir müssen die Wählerschaft von AfD und Co. ernst nehmen. Sie nicht als passive, manipulierbare Masse verdrossener Wutbürger verstehen, die einfach gegen etwas protestieren wollen. Sondern als Menschen, die aktiv an etwas glauben.
Woran glauben sie? Es sind nicht alles Nazis. Ja, Menschen mit neonazistischem, faschistischen Gedankengut dürften am ehesten AfD und Co. wählen. Aber längst nicht alle Menschen, die AfD und Co. wählen, sind Nazis. So einfach und eindeutig ist die Sache dann leider ganz und gar nicht.
Was ist zu tun, um den rechtspopulistischen Knoten zu lösen?
Vielleicht hilft es, präziser zu erklären, was an den ethno-kulturellen Vorstellungen von AfD und Co. problematisch ist anstatt diese Parteien pauschalisierend als Nazis zu kritisieren. Vielleicht hilft es, tatsächlich bestehende Probleme bei der irregulären Migration besser und schneller zu lösen, um AfD und Co. die Empörungsbewirtschaftung zu erschweren. Vielleicht hilft es, wenn sich linke Parteien stärker für sozialstaatliche Massnahmen und Umverteilung einsetzen, um damit bei den ökonomischen Sorgen der AfD-Wählerschaft anzudocken.
Zentral ist aber vielleicht etwas anderes: Eine gute Geschichte.
AfD und Co. erzählen eine enorm starke, packende, zusammenschweissende Geschichte. Eine Geschichte der Marginalisierung und des Verlustes von Identität und Heimat.
Es genügt nicht, zu sagen, dass diese Geschichte nicht stimmt. Was wir benötigen, ist eine alternative Geschichte. Eine Geschichte, die berechtigte Anliegen ernst nimmt und stark und packend ist und Menschen zusammen bringt und positive Wege in eine bessere Zukunft aufzeigt.
Wie soll diese Geschichte aussehen? Ich wünschte, ich wüsste es.
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